Der europäische Patient ‒ Verordnungen können Verantwortung nicht ersetzen

Autor/innen

  • Romy Emmerich Andrássy Universität Budapest

DOI:

https://doi.org/10.25929/bjas202288

Schlagwörter:

Governance, EU-Level, Gesundheitssystem, grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung, Kostenerstattung

Abstract

Die Inanspruchnahme grenzüberschreitender Leistungen im Gesundheitswesen und ihre Honorierung ist in der EU auf zweifache Weise geregelt. Zum einen eröffnet das Europäische Sekundärrecht durch die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 einem Versicherten eine direkte Anspruchsgrundlage für die Inanspruchnahme ausgewählter Leistungen im europäischen Ausland. Zusätzlich ist durch die Umsetzung der Patientenrichtlinie 2011/24/EU in nationales Recht eine weitere Anspruchsgrundlage für Kostenerstattungen beim Import medizinischer Leistungen durch die Krankenversicherung geschaffen worden. Nicht unproblematisch ist, dass sich die beiden Regelungskreise zwar grundsätzlich unterscheiden, aber vor allem für Leistungen im ambulanten Bereich auch deutlich überlappen. Für den behandelnden Arzt, ist dabei nicht objektiv ersichtlich, auf Basis welcher Rechtsgrundlage sein Patient behandelt werden soll, er ist auf die ehrliche Selbstauskunft des Patienten angewiesen. Davon abhängig ist, ober er kostenlos Sachleistungen nach im Behandlungsland üblichem Leistungsumfang gewährt oder seine Leistungen nur gegen Rechnung an den Patienten erbringt.
Nicht nur weil die Behandlung ausländischer Gastpatienten außerhalb nationaler Budgets erfolgen kann und daher auch Rationierungsverfahren wie Praxisbudgets oder Punktwertedegression für sie nicht greift, ist die Privatabrechnung für den Arzt die finanziell attraktivere Variante. Für den Leistungsempfänger ist dies mit dem Risiko verbunden, seinerseits nur einen Teil der Leistungsausgaben im Nachhinein von seiner Versicherung erstattet zu bekommen. Für den Patienten besteht daher im Gegenteil häufig ein Anreiz, in den Regelungskreis der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zu fallen, weil er hier für empfangene Sachleistungen nicht in finanzielle Vorleistung treten muss: Der behandelnde Arzt rechnet mit einer nationalen Versicherung als aushelfendem Träger ab, die ihrerseits wiederum mit der Heimatkrankenkasse des Patienten abrechnet.
Zentral für das Funktionieren der grenzüberschreitenden europäischen Gesundheitsversorgung ist angesichts der diskretionären Entscheidungsspielräume daher das verantwortungsbewusste, regelkonforme Verhalten der Akteure. Die Rechtsgrundlage allein kann nicht verhindern, dass sich Einzelne – Ärzte oder Patienten – auf Kosten der Versichertengemeinschaft Vorteile verschaffen. Gerade vor dem Hinter-grund einer in den letzten Jahren deutlich gestiegenen Zahl von Leistungsinanspruchnahmen im europäischen Ausland gewinnt dies eine wachsende Bedeutung für die Integrität der Versicherungssysteme. Ansonsten droht die Unterwanderung der nationalen Rationierungsbemühungen der Länder, die mit spezifischen Regelungen zur Begrenzung der abrechnungsfähigen Leistungen oder der Anzahl zugelassener Anbieter versuchen, eine Überinanspruchnahme von Leistungen im Gesundheitswesen zu verhindern.

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Veröffentlicht

2022-03-30